Digitalisierung der Verwaltung

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Digitalisierung der Verwaltung

In einem Kommentar bewertet Johannes Rosenboom anhand ausgewählter Beispiele die Digitalisierungsbestrebungen aus dem Koalitionsvertrag der Bundesregierung.

Der Koalitionsvertrag – Ein Jahr danach

Ende November 2021 stellten die drei Regierungsparteien SPD, Die Grünen und FDP ihren Koalitionsvertrag (KoaV) der Öffentlichkeit vor. In dem 177 Seiten starken Papier nimmt das Thema Digitalisierung großen Raum ein. Wo stehen wir ein Jahr später? Was ist aus der Anfangseuphorie und den Digitalisierungsansätzen des Koalitionsvertrags bisher geworden?

Nie haben sich Vorgängerregierungen in ihren Koalitionsverträgen so konkret und ausführlich mit Vorhaben der Digitalisierung in den verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Sektoren beschäftigt. Nach der Lektüre keimten so etwas wie Aufbruchsstimmung und verhaltene Euphorie auf. Endlich – nach Jahren des eher Zögerns und Zauderns – schien hier bei den Koalitionären der politische Wille zum längst überfälligen großen Wurf für eine umfassende Digitalisierung des föderalen Staatswesens fest verankert zu sein. Der KoaV deklarierte die digitale Modernisierung des Staatswesens an mehreren Stellen zu einem der wichtigsten Vorhaben der Bundesregierung. So widmete sich gleich zum Auftakt das Kapitel II „Moderner Staat, digitaler Aufbruch und Innovationen“ mit 16 Seiten den verschiedenen Vorhaben der Verwaltungsmodernisierung und -digitalisierung. Dort heißt es: „Die Verwaltung soll agiler und digitaler werden.“ und „Die Verwaltung wird digitaler und konsequent bürgerorientiert“.

„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ – getragen von dieser Stimmungslage hatten wir im Materna Monitor einen Kommentar veröffentlicht, der sich mit dem Digitalen im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung beschäftigte. Tenor: tendenziell optimistisch. Die Resonanz auf den Kommentar war sehr positiv.

Das Onlinezugangsgesetz und Online-Dienste

Das Onlinezugangsgesetz und Online-Dienste

Zum Start der neuen Bundesregierung hatten die maßgeblichen Verantwortlichen aus dem Bundesinnenministerium in puncto Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG) eine ehrliche Bilanz gezogen und das ursprünglich festgelegte Ziel der Umsetzung von 575 OZG-Leistungen bis Ende 2022 als deutlich verfehlt deklariert. Bei dieser Bestandsaufnahme erweiterten sie das Betrachtungsfeld für die künftigen Umsetzungsschritte: höhere Nutzerfreundlichkeit bzw. Attraktivität, verbindliche Standards und Architekturen, Fragen des Betriebs und eines föderalen Rollout- und Nutzungsmodells. Das war notwendig und überfällig, um mit einem unverstellten Blick auf die bestehenden Herausforderungen einen erneuten Anlauf unternehmen zu können.

Das Ergebnis dieser Neujustierung mündete Mitte Mai 2022 in dem Beschluss des IT-Planungsrats „Priorisierte Einer für Alle (EfA)-Leistungen im föderalen Programm“ – sogenannte OZG-Booster für 35 EfA-Leistungen. Auch wenn das Ganze leichte Anmutungen von Torschlusspanik hatte, um überhaupt noch einen Teilerfolg der OZG-Umsetzung innerhalb der Gesetzesfrist erzielen zu können, konnte man wohlwollend von einer Refokussierung und föderal gebündelten Kraftanstrengung sprechen. Leider sind auch Ende 2022 die bisherigen Ergebnisse dieser deutlich abgespeckten Zielsetzung recht überschaubar. Das betrifft sowohl die rein quantitative als auch die inhaltliche Umsetzung im Sinne einer echten, durchgängig Ende-zu-Ende-Digitalisierung von Verwaltungsleistungen.

Der eGovernment Monitor 2022 der Initiative D21 belegt empirisch diese Einschätzung, was die Zufriedenheit mit und die Inanspruchnahme von staatlichen Online-Diensten durch die Bürger:innen angeht. Die begonnene OZG-Umsetzung hat zwar vieles hinsichtlich einer Verwaltungsdigitalisierung in Bewegung gebracht, aber der Anteil der Nutzer:innen stagniert weiterhin auf einem ähnlichen – im internationalen Vergleich eher bescheidenen – Niveau, wie auch schon in den vergangenen Jahren. Die Gründe dafür sind vielfältig, aber letztendlich alle nicht neu: fehlende Bekanntheit vieler Online-Leistungen, mangelnde Benutzerfreundlichkeit und wenig komfortable mobile Nutzbarkeit, zu komplizierte Handhabung, nach wie vor häufig nicht gegebene medienbruchfreie Abwicklung usw. Die Bilanz: im Durchschnitt aller untersuchten Leistungen interagieren zwei von drei Bürger:innen nicht über den möglichen Online-Zugang mit den Behörden.

Zwei aktuelle Beispiele aus dem Sektor Wohnen veranschaulichen die Bandbreite – wenn auch nicht hundert Prozent vergleichbar: der Zensus 2022 für Gebäude- und Wohnungszählung und die neue Grundsteuererklärung. Betroffen sind ca. 36 Millionen Immobilien und Grundstücke mit knapp 45 Millionen Besitzer:innen – also eine digitale Erhebung mit sehr großer Reichweite und Sichtbarkeit. Wenn es gut läuft, ist dies eine perfekte Chance für eine gelungene Werbung für staatliche Digitalisierungsangebote.

Die statistische Erhebung des Gebäudezensus – eine zugegeben einfache Abfrage weniger Daten – ist gut gemacht: ein selbsterklärender, intuitiv zu bedienender und innerhalb von wenigen Minuten auszufüllender vierseitiger Online-Fragebogen. Dahingegen ist die Datenerhebung der Grundsteuererklärung 2022 selbst für digital-affine, formular- und behördengeübte Anwendende ein mittlerer Albtraum. Wird in der Einstiegsmaske ein Häkchen nicht richtig gesetzt, nimmt das Unheil seinen Lauf und macht alle weiteren mühsam zusammengesuchten Eintragungen zur Makulatur.

Nicht migrieren, sondern neu gestalten

Nicht migrieren, sondern neu gestalten

Natürlich sind beide Verfahren nicht vergleichbar, die Grundsteuererklärung erfordert wesentlich mehr Daten aus unterschiedlichen Quellen und das Formular sowie die dahinterliegenden Prozesse sind deutlich komplexer. Aber genau das veranschaulicht die Problemlage: Bei der Grundsteuererhebung hat es sich die Verwaltung offensichtlich einfach gemacht, indem sie ihre analogen Papierformulare elektrifiziert und ins digitale Schaufenster gelegt hat. Hier hätte man stattdessen im Zuge der digitalen Transformation die Anforderungen und Prozesse überdenken, radikal entschlacken und insgesamt nutzerfreundlicher und verständlicher gestalten müssen.

In diesem Beispiel wurde zu wenig aus Sicht des Nutzenden gedacht, sondern der bestehende (analoge) Status Quo bzw. die Binnensicht der Verwaltung wurde nach außen gekehrt. In Sinne eines minimal E-Government-Ansatzes wäre es deutlich bürgerfreundlicher gewesen, die in der Verwaltung ja größtenteils bereits vorhandenen Daten (siehe Grundbücher, Bodenrichtwerte, Lage usw.) vorausgefüllt dem Immobilienbesitzenden zur Verfügung zu stellen und diesen ggf. nur noch Korrekturen und Aktualisierungen machen zu lassen. Schließlich will die Verwaltung etwas von den Immobilienbesitzer:innen: ihre Zeit, ihre Daten und letztendlich ihre Grundsteuern.

Stattdessen wälzt der Staat seine digitalen Versäumnisse zeit- und nervenbelastend auf die Bürger:innen ab: mangelnde Datenbasis, mangelnde Vernetzung und Auswertbarkeit der verschiedenen Registerverfahren und mangelnder Datenabgleich zwischen den föderalen Ebenen. „Kundenorientierung“ sieht anders aus. Dies ist zudem noch gespickt mit föderalen Unterschieden (u. a. Bundes-, Bodenwert-, Flächen-Wohnlagenmodell), verschiedenen Plattformen (Elster und BMF), überlasteten Server-Systemen und Durcheinander bei der Fristverlängerung.

Hier wären für eine nutzerzentrierte Umsetzung, wie zum Beispiel eine vorgeschaltete Customer Journey mit einem modernen UI/UX (User Experience), ein „Booster“ oder auch ein „Doppel-Wumms“ angebracht und – trotz allem zeitlichen Umsetzungsdrucks – mehr Vorbereitungszeit notwendig gewesen. Der Staat hat bei der Grundsteuererhebung die Chance vertan, Millionen von Bürger:innen (hier Immobilienbesitzende) seine digitale Leistungsfähigkeit in smarter Weise zu demonstrieren. Auch der Verwaltung und der Steuersache selbst ist mit so einem Vorgehen nicht gedient. Schon heute rufen Steuerberater:innen und seriöse Fachveröffentlichungen flächendeckend dazu auf, pro forma Widerspruch gegen die kommenden Grundsteuerbescheide einzulegen und den Klageweg zu beschreiten. Für den durchschnittlichen Anwender wäre eine valide Datenerfassung aufgrund der Unzulänglichkeiten der Anwendung kaum möglich gewesen.

Wie auch bei der OZG-Umsetzung gilt: Wir haben kein Erkenntnisdefizit sondern ein Umsetzungsproblem.

Zaghafte Fortschritte

Zaghafte Fortschritte

In einigen Digitalvorhaben aus dem KoaV sind durchaus verhaltene Fortschritte im ersten Jahr erzielt worden: Beispielsweise wurden bei der Registermodernisierung durch die registerführenden Bundesbehörden wichtige Projekte initiiert. Auch die Strategie für einen digitalen souveränen Cloud-Ansatz und die Einführung von CDO-Rollen in Behörden nimmt Formen an. Andererseits befinden sich viele angekündigten Projekte auch ein Jahr danach noch im reinen Ankündigungsmodus oder sind on hold gesetzt, wie z. B. das zusätzliche Digital-Budget. Verschiedene Einlassungen nähren die Vermutung, dass man von den eigenen Ambitionen stellenweise schon wieder zurückrudert („lieber nur 5 statt 50 Projekte“) und sich lieber auf einen Monitoring-Ansatz zurückzieht („Das Monitoring der Strategie ist fast noch wichtiger als die Strategie selbst.“).

Zu einer ausgewogenen Zwischenbilanz gehört aber auch, dass man der Ampel-Koalition zugutehalten muss, dass sie wie keine Bundesregierung vor ihr direkt nach Amtsantritt in die Handlungszwänge globaler und multi-dimensionaler Krisen gekommen ist. Das gestaltende aktive Moment aus „Mehr Fortschritt wagen“ – und damit auch die Digitalisierungsvorhaben – ist leider sehr schnell unter die Räder der Auswirkungen des russischen Angriffskrieges, Energiekrise, Inflation und Rezession geraten. Dennoch: die Digitalisierung des Staatswesens ist nicht beliebig aufschiebbar, da auch sie ein wesentliches Element der staatlichen Souveränität und der Resilienz ist. Sie schafft die künftigen Grundlagen für die Weiterentwicklung und Prosperität in allen Sektoren und letztendlich auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Daher stimmt es bedenklich, dass aus dem KoaV bisher wenig echte neue Impulse für Folgedigitalisierungsprojekte erwachsen sind. Die so genannten Hebeprojekte sind wenig ambitioniert. Dazu gehört unter anderem der Dauerbrenner des längst überfälligen flächendeckenden Ausbaus der Glasfaseranschlüsse bzw. der Gigabit-Strategie. Auch die Sicherstellung der notwendigen Finanzierung von Digitalisierungsvorhaben scheint aufgrund der Entlastungspakete und sonstigen haushälterischen Belastungen zunehmend unter Druck zu kommen. Das wäre allerdings Sparen an der falschen Stelle. Trotz aller Lippenbekenntnisse: Die im KoaV noch umfänglich formulierten Digitalisierungsanstrengungen scheinen auf der politischen Agenda unter dem Druck des Faktischen langsam, aber sicher nach hinten durchgereicht zu werden.

Wäre ein Digitalisierungsministerium die bessere Wahl gewesen?

Digitalministerium

Im Bundestagswahlkampf 2021 entbrannte die Diskussion über das Pro und Contra eines zentralen Digitalisierungsministeriums, um den Herausforderungen der Digitalisierung mit einem dedizierten Sitz am Kabinettstisch und dabei ausgestattet mit den entsprechenden „Minister:in-Rechten“ mehr Umsetzungskraft zu verleihen. Bekanntlich kam es nach der Wahl anders und die Ampel entschied sich im Kern für die Fortführung des „querschnittlichen, dezentralen“ Ressort-Ansatzes und bündelte nur einige IT-Kompetenzen vor allem zwischen Bundeskanzleramt, Bundesinnenministerium, Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz und Bundesministerium für Digitales und Verkehr neu.

Ein Jahr später und allen Organisationserlassen zur Zuständigkeitsschärfung zum Trotz: Es ist ein Wimmelbild fragmentierter IT-Verantwortlichkeiten entstanden, das entlang der politischen Leitlinie verläuft, dass alle drei Ampel-Parteifarben irgendwie ein bisschen mit digitaler Zuständigkeit bedacht worden sind. Die Digitalpolitik ist hier weniger sachbezogen, als vielmehr koalitionsbezogen – was parteipolitisch nachvollziehbar, dem Ziel einer beschleunigten Digitalisierung aber abträglich ist. In der Zwischenbilanz bleibt die Bundesregierung deutlich hinter ihren eigenen Ankündigungen aus dem KoaV zurück: von einer grundsätzlichen Neuordnung und klareren Strukturierung der Digitalisierungszuständigkeiten ist unter dem Strich stellenweise das Gegenteil erwachsen.

Die Vielstimmigkeit mit ihren Unklarheiten bleibt. Notwendige zentrale Entscheidungen drohen im Kompetenz-Wirrwarr zu versanden. Es fehlt die klare Linie, wie der Staat seine jahrzehntelangen Versäumnisse in einer kraftvollen, „konzertierten“ Aktion bezüglich Digitalisierung des Staatswesens nach- und aufholen will. Ich war damals gegen den Ansatz eines Digitalisierungsministeriums – vor dem Hintergrund des aktuellen Tableaus denke ich darüber inzwischen anders.

Bilanz und Ausblick

Bilanz und Ausblick

Die bisherige Bilanz fällt mäßig aus. Die optimistische digitale Aufbruchstimmung des KoaV hat sich deutlich eingetrübt. Man kann der Bundesregierung zugutehalten, dass sie Getriebene der weltpolitisch radikal veränderten Lage ist, die wirtschaftlichen Aussichten sich eintrüben und weitere exogene Megatreiber, wie die Auswirkungen von Klimawandel und Demographie, das komplexe Thema Digitalisierung des Staatswesens in den Hintergrund drängen. Dennoch bedarf es mehr Anstrengungen und politischer Klarheit in der verbleibenden Legislaturperiode.

Dazu ist das Digitale zu wichtig und ist ein maßgeblicher Lösungsbaustein bei vielen drängenden Herausforderungen in Deutschland, zum Beispiel bei der Verkehrswende, im Bildungswesen, als digitale Rendite bei immer weniger Fachkräften in der öffentlichen Verwaltung und auch wie Bürger:innen ihren Staat im Alltag erleben. Da die Hoffnung bekanntlich zuletzt stirbt: Der KoaV ist eine gute Grundlage. Es bleiben der Ampel noch drei Jahre und es gibt gute, mutmachende Ansätze und erfolgreiche Projekte aus der Praxis.

Über den Autor

Johannes Rosenboom ist Senior Vice President Sales, Marketing und Business Development im Geschäftsbereich Public Sector bei Materna. Rosenboom ist Diplom-Verwaltungswissenschaftler und beschäftigt sich sein gesamtes Berufsleben mit Fragen der Digitalisierung und Organisation der öffentlichen Verwaltung.